Jahrhundertelang dachten die Bewohner, sie lebten auf einem riesigen Vulkankrater. Bis sie entdeckten, dass sie ihre Stadt in Wirklichkeit mit mehr als 72.000 Tonnen Diamantenstaub und auf dem Einschlagkrater eines Millionen-Jahre-alten Meteoriten erbaut hatten.
Das Nördlinger Ries ist ein kesselförmiges Gebiet von 24 km Durchmesser, das etwa 100 bis 150 Meter unter den umgebenden Hochebenen der Schwäbisch-Fränkischen Alb – im Süden Deutschlands liegt. Diese geografische Besonderheit und der Reichtum der Böden – das Gebiet wird auch heute noch überwiegend landwirtschaftlich genutzt – haben wahrscheinlich dazu geführt, dass es bereits in vorgeschichtlicher und römischer Zeit stark besiedelt war.
Der Name des Rieses kommt, wie ihr sicher schon erratet habt, von seiner grössten Stadt: Nördlingen. Auch sie war schon zur Römerzeit besiedelt, wie die Ausgrabungsstätte eines ehemaligen römischen Gutshofs beweist. Doch erst im Jahr 898 wurde die Existenz der Stadt offiziell anerkannt: Sie wurde „Nordilinga“ genannt und hatte den Status eines karolingischen Königshofes.
Im Mittelalter entwickelte sich Nördlingen zu einem reichen und bedeutenden Handelszentrum – fast auf gleicher Höhe mit Frankfurt am Main. Dies und der Status als Reichsstadt verhalfen der Stadt zu einem schnellen Wachstum von Fläche und Einwohnern. In dieser Zeit entstanden auch die meisten der heute noch erhaltenen Sehenswürdigkeiten wie der Mauerring und die St.-Georgs-Kirche.
Als die Nördlinger jedoch an der Erweiterung ihrer Stadt arbeiteten, bemerkten sie, dass die Steine, die sie für ihre Gebäude verwendeten, glänzten. Ob sie dem keine Bedeutung beimassen, ob sie es auf abergläubische oder religiöse Gründe zurückführten oder ob sie es sich einfach nicht erklären konnten, ist nicht klar. Es ist auch nicht klar, ob sie die geografischen Merkmale des Rieses, in dem sie lebten, bemerkten oder sich darum kümmerten.
Die verborgene Wahrheit
Aber selbst im 18. und 19. Jahrhundert, als neue Studien wie die Geologie aufkamen, konnten die Wissenschaftler den Ursprung dieses 24 km breiten Kraters und seiner glänzenden Steine – Suevit genannt – nicht gut erklären. Einige führten alles auf den Ausbruch eines tausend Jahre alten Vulkans zurück, andere auf die Folgen einer früheren Vergletscherung, einige sogar auf dasselbe seismische Ereignis, das die Alpen geformt hat.
Erst als die amerikanischen Geologen Eugene Shoemaker und Edward Chao die Stadt in den 1960er-Jahren besuchten, wurde die Wahrheit ans Licht gebracht. Sie stellten fest, dass Nördlingen nicht in einem Vulkankrater lag, sondern in dem Krater, den ein Meteorit hinterlassen hatte. Vor 15 Millionen Jahren schlug nämlich ein 1,5 km breites Objekt mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 km/s (72.000 km/h) und der Energie von 1,8 Millionen gleichzeitig gezündeten Hiroshima-Bomben auf der Erde ein. Dabei wurde ein Krater mit einem Durchmesser von 8 km und einer Tiefe von 4 km ausgesprengt. Er war jedoch so instabil, dass kilometergrosse Felsplatten an den Seiten herunterrutschten und ihn neu formten, bis er zu dem 24 km breiten und 150 m tiefen Kessel wurde, den wir heute kennen.
Die Entstehung des Diamantensteins
Wie entstand aber Suevit? Das wurde erst nach dem Besuch von Shoemaker und Chao herausgefunden. Örtliche Geologen schätzten, dass die Stadtmauern und Gebäude etwa 72.000 Tonnen Diamantentaub enthielten! Bei seinem Einschlag durchschlug der Meteorit mehrere Erd- und Mineralschichten und prallte auf Graphit- und Quarzablagerungen. Sie wurden so stark erhitzt, dass sich die Kohlenstoffblasen darin fast augenblicklich in winzige Diamanten verwandelten. Die Temperaturen waren tatsächlich so hoch, dass die dicke Suevitschicht im Krater schätzungsweise 2000 Jahre brauchte, um von 600 °C auf 100 °C abzukühlen.
Wertlose Diamanten
Warum sind diese 72.000 Tonnen Diamantenstaub nicht abgebaut worden? Erstens, weil viele Gebäude abgerissen werden müssten. Und dafür ist Nördlingen viel zu schön. Zweitens ist die Grösse dieser Edelsteine so extrem gering, dass sie keinen Wert haben, obwohl es sich um eines der grössten Vorkommen der Welt handelt. Zwar haben auf der Welt ähnliche geologische Ereignisse stattgefunden, aber nirgendwo ist die Konzentration an Edelsteinen so hoch wie in Nördlingen.
Als einer der am besten erhaltenen großen Einschlagskrater der Erde hat sich das Ries jedoch als sehr wertvoll erwiesen. Im Vorfeld ihrer Mondmissionen absolvierten die Astronauten von Apollo 14 und Apollo 16 hier ein Training, in dem sie lernten, welche Art von Gestein sie zur Erde zurückbringen sollten. Heute lockt das Nördlinger-Ries mit seinen idyllischen Landschaften auch geschichtlich und geologisch interessierte Touristen und Radfahrer an.